Ostern des Herzens.

Skizze von Teo von Torn.
in: „Trierische Landeszeitung” vom 17.04.1906,
in: „Der deutsche Correspondent” vom 01.04.1910


Sie sagte, ohne sich umzuwenden: „Herr Doktor Weitbrecht —?”

„Zu dienen, mein gnädiges Fräulein!”

Karola Pfisterer malte noch ein paar Striche und trat zu flüchtiger Prüfung von der Staffelei zurück. — Dann ließ sie die Hand mit dem Pinsel sinken und wandte sich um — mit jener laschen Ruhe, durch die überschlanke Frauen die Harmonie ihrer Bewegungen zu wahren wissen.

Ein leichtes Hauskleid, das die Mitte hielt zwischen priesterlichem Talar und modischer Reformtracht, umfloß ihre Gestalt und bauschte sich in schweren Falten um ihre Füße. Ein viereckiger, undekorirter Ausschnitt ließ den schmächtigen Hals frei. Das schwarze Haar legte sich kunstlos um Schläfen und Ohren, um dann tief im Nacken zu einem schweren, massiven Knoten sich zu vereinen. Die Brauen hoben sich scharf und gerade von der weißen Stirn. An der Nasenwurzel und über den Mundwinkeln lagerten leise dunkle Schatten.

Dr. ing. Arthur Weitbrecht — der Chef-Ingenieur des Welthauses „Vulkan-Maschinenwerke, vormals Pfisterer u. Starke” — strich über das blonde Kraushaar, als wenn er das letzte flüchtige Roth beseitigen wollte, das ihm beim Eintritt in die Stirn gestiegen war. Dann entledigte er sich der Handschuhe — und als er aufblickte, erinnerte in seiner Haltung, in dem Ausdruck der klugen, energischen Augen nichts, daß er vor der bedeutsamsten Entscheidung seines Lebens stand.

„Sie beabsichtigen, Ihre Stellung am Vulkan aufzugeben?”

„Das ist mein Entschluß, gnädiges Fräulein. Gleich nach dem Osterfeste, das ich noch hier — bei meiner alten Mutter — verleben möchte, folge ich einem Rufe nach Sheffield.”

Karola Pfisterer zog die Brauen zusammen. In dem matten Jet-Glanz ihrer Augen flackerte ein Befremden auf. Es klang kurz und ungeduldig, als sie fragte:

„Hat mein Oheim nicht mi Ihnen gesprochen?”

„Allerdings. Herr Geheimrath Starke hat mit mir gesprochen. Er — Ihre Palette, gnädiges Fräulein, das Oel ergießt sich auf Ihr Kleid und auf den Teppich — Herr Geheimrath Starke hat mit mir gesprochen. Er hat in schmeichelhafter Form zu erkennen gegeben, daß er mich unter allen Umständen dem Vulkan zu erhalten wünsche . . .”

„Und Ihnen nahegelegt, um meine Hand anzuhalten.”

„Auch das.”

„Nun wohl — ich bin einverstanden.”

Wieder strich der Ingenieur über Stirn und Haar. Die Röthe hielt sich etwas länger diesmal. Auch straffte sich das Geäder an seinen Schläfen, als Karola Pfisterer — halb schon wieder zur Staffelei gewandt — hinwarf:

„Damit dürfte die Angelegenheit für's Erste erledigt sein.”

„Nicht ganz, gnädiges Fräulein. Wenn ich mich ohne Weiteres an Ihr Einverständniß halten wollte, so würde ich in diesem Augenblick bereits das Recht haben, Ihre Behandlung der „Angelegenheit” als unangemessen zu bemängeln. Da das aber nicht der Fall ist, so kann ich nur bitten, mir zum mindesten ein wohlwollendes Durchschnittsmaß von Achtung und Höflichkeit zu bewilligen. Legen Sie gütigst Ihre Malutensilien bei Seite und schenken Sie dem Manne, dem Sie sich zur Ehe geben wollen, einige Minuten Gehör.”

Wie unter einem suggerirten Zwange glitt Karola Pfisterer langsam auf ein Taburet neben der Staffelei nieder. Wie sie Platz genommen, so verharrte sie — ohne ein Glied zu rühren. Nur die dunklen Augen folgten jeder seiner Bewegungen mit maßlosem Staunen.

Weitbrecht hatte einen Sessel herangerollt und sich niedergelassen. In artiger Haltung, aber bequem. Keine Spur mehr von Zorn oder Erregung. Einen Augenblick noch grübelte er vor sich hin und zog den blonden Bart durch die Finger — wie er das beim Berechnen schwieriger Construktionen zu thun pflegte.

„Sie müssen mir absolute Offenheit gestatten, gnädiges Fräulein. — In sachlicher und persönlicher Hinsicht. Nur dann werden wir uns verständigen. Ich bemerke zunächst, daß für das Opfer, zu dem sie sich entschlossen haben, geschäftlich nicht die geringste Veranlssung vorliegt. Wenn Ihr Herr Oheim es so hingestellt hat, als ob die weitere Prosperität des Vulkan von meinem Verbleiben abhängig sei, so ist das eine glatte Ueberschätzung meiner Fähigkeiten. Vielleicht auch nur der erneute Ausdruck jenes gütigen Wohlwollens, das Ihr Herr Oheim mir von Anbeginn meiner Laufbahn erwiesen. Unter meinen engeren Collegen kann ich drei, vier namhaft machen, die einer technischen Oberleitung wohl gewachsen wären, die zum Theil auch älter sind wie ich und deshalb über reichere Erfahrung verfügen. Der Vortheil, daß ich im Werke von der Pike auf großgeworden, wird dadurch ausgeglichen. Der Herr Geheimrath will das nicht einsehen. Hoffentlich gelingt es mir, Sie zu überzeugen, und damit alles Weitere ausschalten zu können.”

Unentwegt haftete der dunkle, mattglänzende Blick auf ihm. Fast ohne die Lippen zu bewegen, fragte sie:

„Was wünschen Sie auszuschalten?”

„Das Persönliche.”

„Und das wäre?”

Er schluckte hörbar. Dennoch klang es natürlich und ungezwungen, als er erwiderte:

„Wir passen nicht zu einander. Ganz und gar nicht. Es offenbart sich das schon in unserer unterschiedlichen Ansicht von der Ehe. Sie denken modern darüber. Ich bin in dieser Hinsicht ein altmodischer Mensch.”

„Sie verlangen Liebe.”

„Ganz recht. Liebe und Harmnonie der Charaktere. Diese besonders — weil sie die festere Basis eines häuslichen Glückes ist, wie ich es mir erträume.”

„Träume haben Sie noch —?”

Der spöttische Ton verletzte ihn. Er zuckte die Achseln — beinahe verächtlich. Er hätte das nicht gethan, wenn er sie angesehen, als sie fragte. Zwei schwere Tropfen schimmerten in ihren Augenwinkeln.

„Sie haben viel Unglück gehabt, meine Gnädige,” sagte er hart. „Ihre Eltern haben Sie früh verloren — und dann das Mißgeschick, unermeßlich reich zu sein. Glück oder auch nur heiteren Sinn und Zufriedenheit findet man selten hinter güldenen Bergen. Das entschuldigt viel — auch die Ironie Ihrer Frage — aber doch nicht alles, nicht diese ganze trostlose Leere und Freudlosigkeit. Allerdings, Sie haben nie einen Traum gehabt, nie einen Frühling — auch in Ihrer herrlichsten Maienblüthe nicht. Schon als Vierzehnjährige haben Sie dem täppischen Burschen, der Ihrer knospenden Schönheit sein erstes Gedicht geweiht, ein blankes Geldstück gereicht. Als er es Ihnen vor die Füße geworfen, hatten Sie es um ein Haar dahin gebracht, daß sein Vater um Lohn und Brod kam. Der Junge hat furchtbare Prügel bekommen damals — trotzdem hat er heute noch seine Träume. Sie bieten mir Ihre Hand. Das ist — wie damals — wiederum ein blankes Geldstück! Durch Erfahrung gewitzigt, werfe ich es Ihnen nicht vor die Füße — ich erkläre Ihnen nur, weshalb ich es nicht nehmen kann. Nicht will!”

Er war aufgestanden — so heftig, daß der Sessel zurückrollte.

„Nein — nicht will!” wiederholte er schwerathmend. „Sehen Sie — wenn ich gestern gekommen und vor Sie hingetreten wäre mit — dem Geständniß vielleicht, daß das, was der sechszehnjährige Bursche damals in seinen ungelenken Versen ausgedrückt, alles noch zu Recht besteht — daß die holde Jugendeselei(*) in den langen Jahren zu einer ernsten, starken Liebe ausgereift ist und daß ich Sie zum Weibe begehre auf Grund dieser heiligsten Legitimation — — ausgelacht hätten Sie mich! Wie die ungezählten Anderen, unter denen gewiß auch manche waren, die nicht Ihr kaltes Gold gelockt hat.”

„Manche . . . .” murmelte sie, „ich habe die Wenigen unter dem lungernden Schwarme nie zu erkennen vermocht.”

„Weil unter dem würgenden Mißtrauen Ihr lebendiges Herz nie zu Worte gekommen und schließlich gestorben ist! Deshalb gehen Sie stumpf und theilnahmslos an allem vorüber — an den Menschen, die sich für Sie mühen, und an dem Frühling, der für Sie blüht. Auch in diesem Jahre haben Sie dreitausend Mark angewiesen für das österliche Fest der Kinder auf der Waldwiese. Was ist das? Das ist Geld. Das ist sogar viel Geld für einen solchen Zweck. Und doch ist es so armselig wenig in der Art, wie Sie es geben. Sind Sie einmal gekommen? Haben Sie je eins der kleinen Patschhändchen in Ihre Hand genommen und aus den strahlenden Augen der Kinder die Erkenntniß gelesen, daß es nicht nur ein Fluch, daß es auch ein Segen sein kann, reich zu sein? Unser Herrgott bescheere Ihrem Herzen ein Ostern — und mit diesem Wunsche will ich mich verabschieden.

„Für immer —?”

„Für immer!”

Er griff hastig nach Hut und Handschuhen. Sie trat dicht an ihn heran und legte die lange schlanke Hand auf seinen Arm.

„So werden Sie mir noch eine Frage beantworten, Weitbrecht. Weshalb — gehen — Sie —”

Unter dem lohenden Blick Blicke der dunklen Augen drang eine Blutwelle ihm bis unter das krause Stirnhaar.

„Das — darüber bin ich Ihnen Rechenschaft nicht schuldig!”

*           *           *

In dem behaglichen kleinen Häuschen, das der Chef-Ingenieur Arthur Weitbrecht außerhalb der Fabrikstadt seiner Mutter gekauft, bewohnte er nur die höchstgelegene einfenstrige Giebelstube. Aber was es durch dieses eine Fenster zu schauen gab — an so einem thaufrischen, sonnigen Ostermorgen besonders, das war so zauberhaft schön, daß Arthur Weitbrecht die Koffer und Kisten, an denen er packte, immer wieder im Stich ließ und die heißen Augen an der Gottesherrlichkeit da draußen erfrischte.

Frischgrüne Gärten mit den ersten weißen und rosa Blüthen an den Obstbäumen — so weit der Blick reichte. Beugte er sich etwas hinaus, so lockte rechts drüben der Wald mit der Wiese davor, auf der die festlich geputzten Schaaren der Kinder sich bereits sammelten. Wenn der Lenzwind von dorther kam, brachte er Lachen und Jubel mit und mischte es in das Klingen der Glocken . . . .

Als die Thüre sich öffnete, trat Weitbrecht vom Fenster zurück.

„Du bist's, Mutting —”

„Ja, mein Jung,” sagte die Alte ein bischen kurzathmig und mit feuchten Augen. „Ich hab' Dir einen Gruß auszurichten von Deiner Herrin und auch was zu bestellen. Sie möcht' heuer gern mit auf die Waldwiese —”

„Schon recht.”

„Sie will sich verabschieden von den Leuten, weil sie dem Herrn Ohm alles übergeben hat und mitgeht nach Sheffield — wenn Du magst — —”

„Mutter —!!”

„Wie ich Dir sag'! Aber frag' sie selber. Draußen steht sie und traut sich nicht — — weil ihr das noch so ungewohnt ist mit dem Ostern im Herzen . . . . .”

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(*)   In der „Trierischen Landeszeitung” heißt es: Jugendeselei,
im „Deutschen Correspondent” hingegen: Jugendseele

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